Konzept und Ziele
Jeder einzelne Keilschrifttext eröffnet einen spezifischen Einblick in die Welt des alten Mesopotamiens. Wir begegnen Menschen und ihren Dingen im Alltag, verfolgen einen Rechtsfall oder tauchen in religiöse Dichtung ein. Ein Schriftstück stellt ebenso einen Fund aus einem bestimmten Gebäude dar wie es ein Zeugnis eines Dialekts ist oder bestimmten Textmustern folgt. Denn jedes keilschriftliche Artefakt konserviert Praktiken aus der Welt, in der es entstanden ist. Die moderne Wissenschaft erweckt die in einem Dokument gespeicherten Informationen zu neuem Leben und entdeckt dabei immer wieder neue Facetten einer versunkenen und faszinierenden Welt.
Keilschrifttexte und ihr Kontext
Das übliche Schreibmedium für die Keilschrift war ein handlicher Klumpen Ton (“Tafel”), in den die Zeichen mit einem Griffel aus Schilfrohr eingedrückt wurden. Gegenstände aus getrocknetem oder im Ofen gebranntem Ton bleiben im trockenen Klima Vorderasiens gut erhalten, so dass das keilschriftliche Material eines der umfangreichsten Textkorpora des Altertums überhaupt darstellt.
Alle in Keilschrift geschriebenen Artefakte stammen aus antiken Fundstellen, wo sie entweder absichtlich deponiert oder weggeworfen wurden. Die Tontafeln wurden üblicher Weise in der Nähe des Ortes deponiert, an dem sie gelesen wurden, was oft dem Ort ihrer Niederschrift entspricht. Die im Text erhaltenen Informationen erlauben gerade in Kombination mit dem Fundort Rückschlüsse auf den institutionellen Entstehungskontext und zeigen zum Beispiel, ob es sich um ein Familienarchiv in einem Privathaus handelt oder um das Depot von literarischen und gelehrten Texten in einem Tempel.
Wenn die Fundsituation archäologisch dokumentiert ist, lässt sich in der Regel der soziale Kontext rekonstruieren, in dem ein Dokument geschrieben und rezipiert wurde. Daher bieten der Fundkontext und die Analyse der Materialität der Artefakte entscheidende Anhaltspunkte für die Rekonstruktion mesopotamischer Schreib- und Schriftpraktiken.
Die Sammlungen des Irak-Museums
Die im Irak-Museum aufbewahrten Artefakte stammen aus archäologischen Ausgrabungen ab dem Jahr 1926. Nachdem 1936 die Fundteilung zwischen dem Irak und den ausländischen archäologischen Missionen beendet worden war, wurden alle ausgegrabenen Objekte hier aufbewahrt und in einem zentralen Register katalogisiert. Die keilschriftlichen Artefakte im Irak-Museum in Bagdad bieten daher eine ideale Textbasis, um zu verstehen, welche Rolle Keilschrifttexte in den antiken Gesellschaften spielten, die sie produzierten. Das Irak-Museum beherbergt Keilschrifttexte jeder Art aus der gesamten Laufzeit der “Keilschriftkultur”, vom Chalkolithikum im vierten Jahrtausend bis zur Partherzeit im ersten Jahrhundert n.Chr. Die Texte stammen von 85 archäologischen Stätten mit gut dokumentierten Kontexten, von Privathäusern bis zu Tempeln und Palästen.
Die Keilschriftsammlung des Irak-Museums konnte nicht in der Weise in die Forschung einbezogen werden, wie es ihrem wissenschaftlichen Wert entspricht. Vor allem seit dem Beginn des Irak-Konflikts im Jahr 1990 und der anschließenden jahrzehntelangen Isolation war dieses Material der Forschung oft unzugänglich, wobei zur physischen Unzugänglichkeit erschwerend hinzukommt, dass nur sehr wenige Texte fotografisch dokumentatiert sind.
Die Keilschrifttexte aus dem Irak-Museum bieten sich aber in einzigartiger Weise für ein kontextbezogenes, groß angelegtes Editionsprojekt an, da die archäologischen Kontexte dokumentiert sind und eine moderne, systematische Erschließung einen erheblichen Erkenntnisgewinn erwarten lässt. Neben der fotografischen Dokumentation in Zusammenarbeit mit dem Irak-Museum umfasst das Projekt auch ein Programm zur Konservierung und Restaurierung von Keilschriftartefakten, insbesondere auch zur Ausbildung von Expertinnen und Experten in Bagdad. Ein Stipendienprogramm ermöglicht es zudem irakischen Wissenschaftlern, an der BAdW an der Edition von Keilschrifttexten zu arbeiten, über deren Publikationrechte sie verfügen. So kann auch der anfängliche Datenbestand von ca. 17.000 bekannten Texten des Irak-Museums ergänzt werden.
Historische, soziale und institutionelle Kontexte
Die im Projekt CAIC bearbeiteten Texte des Irak-Museums decken einen Zeitraum von drei Jahrtausenden ab, der von den Stadtstaaten der Frühen Bronzezeit bis zu den Goßreichen in der Eisenzeit reicht. Im Corpus spiegeln sich die tiefgreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen, die auf religiösen, technologischen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen beruhen. Wie andere archäologische Artefakte stammen Keilschriftobjekte aus konkreten historischen Situationen, innerhalb sozialer und politischer Ordnungen und Praktiken, die die Herstellung, den Gebrauch und die Deponierung des Artefakts einschließen; innerhalb der materiellen Kultur bestimmter Lebensstile (einschließlich Architektur, Essens- und Körperpraktiken); oder innerhalb der kulturellen Symbolsysteme, d.h. der Welt, die die Weltanschauungen der Autoren, Schriftsteller und Textrezipienten prägte.
Von der Textsorte zur Linguistik
Die “Textsorte” (oder das “Genre”) ist die Kategorie, die das durch seine Materialität und den archäologischen Fundkontext definierte Artefakt mit dem darauf eingeschriebenen Text verbindet (siehe Abb. 1). Die gewählte Textsorte bestimmt zum einen entscheidend die materielle Form eines Schriftmediums (Diplomatik). Andererseits bestimmt der konzeptionelle Rahmen der Gattung auch die sprachliche Form eines Textes. Textsorten bilden konventionalisierte Muster, die als soziale Praktiken geschaffen, weitergegeben und modifiziert wurden, um erfolgreiche Kommunikation zu ermöglichen. Historische Prozesse der Überlieferung und Anpassung führten zu ständigen Veränderungen. So konnte ein etabliertes Textmuster wie die Quittung eines Darlehens kreativ angepasst werden, um auch andere Arten von Schuldverpflichtungen festzuhalten; und Listen wurden für administrative Aufzeichnungen, aber auch für den Unterricht in Keilschriftzeichen und Vokabular verwendet.
Textsorten fungieren als konzeptionelle, typisierte Muster für sprachliches Handeln bei der Textproduktion und -rezeption. Dementsprechend sind akkadische und sumerische Texte nicht einfach Zeugnisse sprachlicher Äußerungen, die Wörter gemäß der Grammatik der Sprache anordnen. Das Sprachsystem (Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon) selbst kann als Ergebnis einer konventionalisierten Praxis verbaler Handlungen verstanden werden, die in kognitiven Prozessen je nach Kontext verarbeitet werden. Letztlich ist jeder Keilschrifttext ein Zeugnis eines konventionalisierten Sprachgebrauchs innerhalb einer bestimmten Textsorte, die als Handlungsmuster dient. Textsorten sind oft durch eine spezifische Syntax (zum Beispiel Tempus-System, “Wenn”-Sätze), Lexik (poetisch, technisch) oder idiomatische Phrasen, Sätze und Abschnitte gekennzeichnet. Aus praxeologischer Sicht lassen sich Phänomene kanonischer Texte wie Intertextualität oder die Verwendung von festen Wendungen plausibel als gemeinsames Wissen der Verfasser verstehen.
Wissenshorizonte und “Lebenswelten”
Das akkadische und sumerische Lexikon, das in einem bestimmten Text verwendet wird, ist durch die Textsorte bestimmt, vor allem in Bezug auf die Wortwahl. Das Gattungswissen ist aber nur ein Aspekt des gesamten gemeinsamen Weltwissens von Schreibern, Textproduzenten und -rezipienten, innerhalb dessen ein Lexem in einer bestimmten Situation semantisch auf einen Referenten verweist.
In einem groß angelegten Editionsprojekt wie CAIC, das Keilschrifttexte aller Art in ihrem historischen Umfeld zugänglich macht, spiegelt sich die Rekonstruktion von Wissenshorizonten und Lebenswelten auch in den Praktiken der Übersetzung. Umgekehrt bietet die Übersetzung, und damit vor allem das Lexikon, einen wichtigen Ausgangspunkt für deren Erforschung.
Ein konzeptioneller Rahmen für ein 25-Jahre-Projekt
Ein Text spricht nicht aus sich selbst heraus, sondern seine Bedeutung ergibt sich aus sprachlichen, pragmatischen, institutionellen und historischen Kontexten, die der Fachphilologe durch ständige Übung verinnerlicht hat. Im Fall von Keilschrifttexten führt das oft dazu, dass Fachfremde einen Text zwar lesen, aber oft nicht adäquat verstehen können, selbst wenn er in Übersetzung vorliegt. Ein zentrales Ziel der Keilschriftforschung muss es daher sein, Daten und Forschungsergebnisse für andere Forschungsbereiche und schließlich für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dazu soll unser Projekt einen entscheidenden Beitrag leisten.
Die philologische Editionsarbeit wird in unserem Projekt durch einen theoretisch fundierten Rahmen (s. Abb. 1) definiert. Vor dem Hintergrund der Theorie sozialer Praxis lassen sich verschiedene Konzepte und Ansätze fruchtbar miteinander verbinden, so etwa die historische Verortung spezifischen Praxiswissens, der Habitus als Beschreibung sozialer Praktiken, Artefakttheorien in der Archäologie, eine auf dem Sprachgebrauch basierende Semantiktheorie, linguistische Pragmatik und die wissensstrukturierende Rolle von Textsorten.
Innerhalb dieses theoretischen Rahmens wird das Projekt die besten philologischen Methoden der Keilschriftsprachen weiterentwickeln (siehe Abb. 2). Die Edition eines einzelnen Keilschrifttextes sollte deshalb über die Entzifferung und Übersetzung hinaus auch die paläographischen, grammatikalischen und lexikalischen Besonderheiten, die Materialität des Artefakts und die historischen, sozialen und institutionellen Kontexte seiner Entstehung, Verwendung und Ablage ansprechen. Jeder Text trägt seinerseits zur Rekonstruktion des Sprach- und Schriftgebrauchs, also des verbalen Handelns, und der Lebenswelten des antiken Mesopotamien bei.
Ausgehend von einer Theorie sozialer Praktiken, die auf Keilschriftartefakte angewandt wird, zielt das Projekt in seiner digitalen Erfassung von Daten darauf ab, die einzelnen Forschungsschritte so miteinander zu verbinden. Durch die explizite Formulierung der konzeptionellen Grundlagen des Projekts und deren Integration in die Infrastruktur der digitalen Plattform verfügen alle Teammitglieder über einen gemeinsamen methodischen Kontext.
Forschungsfragen
Das Projekt möchte die materiellen, sozialen und sprachlichen Grundlagen der Produktion von Keilschrifttexten erforschen. Warum wurden genau diese Worte in einem Brief verwendet, und wie würde dieser Inhalt in einem vergleichbaren Kontext anderswo im alten Irak, zu einer anderen Zeit, formuliert werden? Welche Einblicke in die damalige Welt bieten administrative oder private Dokumente bieten? Was verbindet mehrere literarische Texte, die an einem Ort gefunden wurden und eine bestimmte "Bibliothek" bildeten? Solche Fragen stellen sich mit jeder archäologischen Fundstelle, mit jeder dort vertretenen Textgattung, mit jedem einzelnen Keilschriftartefakt neu.
Systematisch lassen sich solche Fragen wie folgt auflisten:
- Wo im Irak, zu welcher Zeit, wurden welche Keilschrifttexte geschrieben?
- Welche Medien und Gattungen nutzten die Menschen, die Keilschrifttexte produzierten?
- Welche sprachlichen Ausdrücke wurden in welchen Textzusammenhängen als angemessen angesehen?
- Wie haben konkrete historische Situationen die Textproduktion geprägt?
- Wie manifestiert sich die altmesopotamische Welt in den Keilschrifttexten?
Forschungsziele
Das Projekt widmet sich der digitalen Neubearbeitung der ca. 17.000 Texte aus allen Epochen der Keilschriftkultur, die im Irak-Museum lagern und die bereits in irgendeiner Form (als Fotografie oder Strichzeichnung, mit oder ohne Transliteration oder Übersetzung) veröffentlicht sind. Dabei kommen moderne Standards für die Dokumentation, Edition und Kommentierung zum Einsatz, um das Potenzial der reichhaltigen Keilschriftdokumentation des Irak-Museums besser auszuschöpfen und anhand dieses Corpus die Keilschriftforschung zu fördern.
Der kontextbezogene Ansatz soll nicht nur den Fachleuten einen zuverlässigen und einfachen Zugang zu den komplexen Daten ermöglichen, sondern auch Historikern und Archäologen, aber auch allen anderen Interessierten Kreise, einschließlich lokaler irakischer Behörden, Schulen, Journalisten, Reiseführer. Das Projekt geht bei der Aufbereitung seiner Daten auf unterschiedliche Bedürfnisse ein und trägt so zur Verbreitung des Fachwissens über die frühen Kulturen des Irak bei. Die digitale Umgebung des Projekts soll einen einfachen und vollständigen Zugang zu allen Daten ermöglichen. Das Projektteam kann zudem Texteditionen, Metadaten und Werkzeuge stets auf dem neuesten Stand halten.
Das Projekt hat fünf ineinander greifende Forschungsziele:
- Erstellen von Editionen aller bekannten keilschriftlichen Artefakte aus dem Irak-Museum nach den modernsten assyriologischen Standards, mit Transliteration (Umschrift in lateinische Buchstabenschrift), Lemmatisierung (grammatikalischer und lexikalischer Markierung) und englischer Übersetzung, um dieses kulturelle Erbe sowohl den Spezialisten als auch der breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
- Die Dokumentation und Bewahrung dieser Artefakte für künftige Generationen sowohl physisch vor Ort durch das Vermitteln modernster Konservierungstechniken als auch durch digitale Fotodokumentation und ein nachhaltiges Datenmanagement.
- Vollständige Kontextualisierung (historisch, sozial, institutionell) dieser Artefakte und der damit verbundenen Schreib-, Lese-, Aufbewahrungs- und Entsorgungspraktiken innerhalb eines gemeinsamen konzeptionellen Forschungsrahmens, der sich auf verfügbare Informationen über den archäologischen Kontext und die materiellen Eigenschaften der einzelnen Artefakte stützt.
- Weiterentwicklung der Disziplin durch Ausbildung und Förderung der nächsten Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Darüber hinaus wird die Initiative die internationale Verbreitung von Forschungsergebnissen irakischer Nachwuchswissenschaftler erleichtern, indem sie diese Wissenschaftler bei der Veröffentlichung von Keilschrifttexten aus dem Irak-Museum unterstützt.
- Entwicklung einer bahnbrechenden digitalen Plattform, um diese Arbeit durchzuführen, die daraus resultierenden Daten zu hosten und sie für die Wissenschaft und die breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Der gemeinsame Forschungsrahmen von CAIC erlaubt es, Keilschriftforscherinnen und -forscher mit ihrem Spezialwissen für verschiedene Epochen und Gattungen der Keilschrift in einem Projekt zu verbinden und so zu einem neuen ganzheitlichen Ansatz für die Wissenschaften des alten Vorderasien zu gelangen. Das Beachten von Materialität und Kontext der Artefakte wird außerdem zu Daten und Ergebnissen führen, die für die Geschichte, die Archäologie und andere Wissenschaften bedeutsam sind.